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Unter dem Putz: Makromosaik – Neuhof 44

Die Arbeit im Neuhof 44 stellt ein fotografiegeschichtlich vielleicht einzigartiges Unterfangen dar: Das etwa sechs Meter hohe Bild setzt sich aus ca. 1300 einzelnen Diapositiven der Größe 8 x 12 Zentimeter zusammen. Eine Besonderheit bildet die architektonische Einbettung des Bildes in die räumliche Gestaltung der Wohnung. Die Fotocollage reicht vom vierten in den fünften Stock und nur ein begehbares Fenster bildet eine durchsichtige Grenze zwischen den Etagen. Eine dazu gehörige Lichtquelle beleuchtet die Fotocollage von hinten und sorgt so für einen Leuchtkasteneffekt der der Brillanz der Farben eine eigene Plastizität verleiht. Ein zehn Zentimeter breiter schwarzer Rand rahmt das ganze Bild, gibt ihm Halt und visuelle Stabilität.

 

 

Dabei ist die Entstehungsgeschichte von größtem Interesse für das Verständnis des Bildes: Über einen Zeitraum von zwei Jahren begleitete Steffen Matthes mit seiner Fotokamera den Ausbau des 4. und 5. Stockwerkes des Hauses in der Neuhofstraße 44. Die Arbeit die aus exakt 18 x 72 jeweils gleich großen rechteckigen Einzelbildern besteht, dokumentiert damit für den Eingeweihten den fragmentarisiert wiedergegebenen Fortschritt von Entkernung und Aufbau des Hauses.

 

 

Die Idee eine Art Gebäudeporträt aus einer Vielzahl von Einzelbildern herzustellen – Matthes selbst spricht hier von „Puzzleteilen“ – hat bereits einen Vorläufer in seinem Œvre: Die 2005 entstandenen Arbeiten Foreskin und Rouven praktizieren bereits die Erfassung komplexer Körpertopografien durch die kubistische Perspektivenüberlagerung im Porträtbild. Damals arbeitete Matthes noch mit einer Polaroid Macro 5 SLR-Kamera, einer Spezialkamera für die wissenschaftlich präzise Wiedergabe von Details vorwiegend technischer Konstruktionen. Weil sich der Arbeitsaufwand um ein Vielfaches gesteigert hat, benutzte Matthes für die Arbeit im Neuhof 44 eine digitale Spiegelreflex-Kamera mit Makroobjektiv und Ringblitz. Durch diese Arbeitsweise entsteht eine Fotografie, die restlos ausgeleuchtet und völlig schattenlos eine empirisch neutrale Ansicht auf sein Motiv gewährleisten kann.

Man könnte sagen, ein so entstandenes Bild ist derart nüchtern und undramatisch und mit einer besonderen Art wissenschaftlicher Neutralität ausgestattet, wie kaum ein anderes fotografisches Bild. Die technisch bedingte klare Ästhetik der fotografischen Makroaufnahme ist somit wie bereits bei den Porträtaufnahmen gleich geblieben. Allein die ontologischen Parameter seiner Lagerung und Verarbeitung haben sich vom physisch konkreten „Papierbild“ zum digital gespeicherten Digitalbild verschoben. Eine Änderung die angesichts der bloßen Bildmenge unumgänglich erscheint.

Der Ort, in dem das fertig gestellte Bild installiert ist, ist zugleich der Ort den das Bild zum Thema hat: Sujet und Ausstellungsort stehen somit in direkter Beziehung zueinander, sind fest miteinander verbunden und bedingen einander. Die besondere Dramaturgie der Bildrezeption ergibt sich bereits aus der speziellen Installation: Das Bild „bricht“ durch die Decke des 4. und 5. Stockwerkes hindurch, nur getrennt durch eine begehbare Glasplatte. Das Kunstwerk extensiviert so seinen eigenen Wirkungsraum auf die Innenarchitektur, wird Teil des Wohnraums, ist fester Bestandteil der Raumwahrnehmung der Hausbewohner und durchbricht ganz konkret die Raumgrenzen von „oben“ und unten“.

 

 

Aber noch einmal: Fast 1300 Einzelbilder! Man kann bei dieser Anzahl der einzelnen Aufnahmen, wie bei der Betrachtung des fertigen Bildes nur unzureichend die schöpferische Kraft sowie die disziplinierte Konzentration erahnen die es gekostet haben mag diese gewaltige Bild-Datenmenge zu einem gelungenen Kunstbild zusammenzufügen. Selbstverständlich war das Graphikprogramm des Computers sowie ein großformatiger Bildschirm ein unabdingbares Hilfsmittel beim Herstellungsprozess.

Als Parallelaktion fertigte Matthes zusätzlich ein verkleinertes Modell des fertigen Bildes an, um dort Fotoausdrucke im verkleinerten Maßstab an einem ebenfalls maßstabsgetreu verkleinerten Bildträger anzubringen. Bei der Verarbeitung derart großer Datenmengen gelangt selbst ein hochmodernes Rechnermodell an seine Leistungsgrenzen. Blickt man auf Werkstattfotos aus der Zeit des Planungs- und Entstehungsprozesses, bekommt man beim ersten Betrachten den Eindruck hier einem Restaurator antiker Wandmosaike über die Schulter zu blicken. Die für den Außenstehenden als farbiges Wirrwarr daherkommenden Bildfragmente entfalten für den Künstler erst ihre kunstvolle Logik in Bildaufbau, Farbe und Komposition, wenn sie als fotografischer Abzug durch dessen Hand gewandert sind. Ein verkleinertes Modell der späteren Arbeit diente als Provisorium auf dem die vorläufigen Prints befestigt wurden. Ein scheinbares Paradoxon im Digitalzeitalter, das aber leicht erklärbar wird, wenn man sich die schiere Anzahl der Einzelbilder vor Augen führt. Eine derart gewaltige Unternehmung benötigt das physisch konkrete Rohmodell um seine Vorstellungskraft und künstlerischen Formungswillen zu konzentrieren.

Man darf auf gar keinen Fall vergessen, aus was für einem gewaltigen Fundus eigens angefertigten Bildern Steffen Matthes seine Einzelbilder aussuchte. Im Zeitraum der zwei Jahre Schaffenszeit sind beinahe fünftausend Bilder entstanden, die allesamt auf dem Rechner und diversen Festplatten des Künstlers aufbewahrt werden. Um im Dickicht dieses „Datenpools“ nicht den Überblick zu verlieren, wurden die Bilder auf einer umfangreichen Stichwortliste katalogisiert und gewährleisteten so einen einigermaßen raschen Zugriff zu benötigten Ansichten, Formen, Objekten oder Farbtemperaturen.

Das Bild

Auf den ersten Blick stellt die großformatige Arbeit eine mosaikartig angelegte Fotocollage dar: Das aus 72 x 18 Bildern angelegte Gesamtbild wird durchzogen von einem feinen Raster 2 mm dünner schwarzer Stege das die Einzelbilder deutlich voneinander abgrenzt. Während im unteren Teil eine hellbraun-rötliche Farbigkeit dominiert, verschiebt sich das Farbspiel nach oben  zu einer überwiegend von grau-weißen Farbfeldern bestimmten Teil.

Aufgelockert wird die ganze Arbeit dabei von kleineren, und ebenfalls rechteckigen und teilweise grellen Farbballungsräumen in blau, rot, gelb und grün. Betrachtet man das gesamte Bild von unten nach oben, dann folgt das Auge einem dunklen Grat, der sich von links unten gerade nach oben, und ab der Grenze zur oberen Hälfte in einer Art Rechtskurve nach oben fortsetzt. Dieser dunkle und ungleichmäßig verlaufende „Riss“ der das Bild durchzieht, verleiht ihm zugleich ein geheimnisvolle Tiefe. Im Innern dieser dunklen Höhlung scheinen mehrere Rohrleitungen offenbar logisch und mit scheinbar eindeutig funktionalen Zuschreibungen einen technisch-funktionalen „Kern“, eine semantische Verbindung herzustellen. Derartige Verknüpfungen lassen sich öfter finden.

Gelegentlich werden auch Fugen, Kabel, farbige Einschlüsse oder verputzte Stellen durch Formähnlichkeiten eines anderen Bildes fortgesetzt. Dieses „Weiterspinnen“ bestimmter visueller Grundmuster lassen das Bild zu einer wahren „Wahrnehmungsfalle“ werden. Schließlich überlagern sich hier unterschiedliche Tiefenebenen und Größenverhältnisse unterschiedlicher Objekte, die erst durch die ausgeklügelte Neukombination des Künstlers in ein logisch- bildnerisches Verhältnis zueinander treten. Somit verklammern sich im „Neuhof Bild“ mehrere Wahrnehmungsebenen miteinander: Die der exklusiv hergestellten Beziehungen einzelner Elemente untereinander, sowie die Wahrnehmung, die entsteht, wenn stattdessen „Bild für Bild“ betrachtet wird. Der Blick auf das Ganze löst sich dann für den Moment vom Trompe-l’oeil der Sinnzusammenhänge und wendet sich dem „Zellkern“ der Bildkomposition, dem Einzelbild zu.

 

 

Damit wird vielleicht auch klar, dass Matthes Bild keine bloße fotografische Illustration eines Bauprozesses zu seiner späteren Erinnerung ist. Vielmehr stellt sein Bild eine durch die Inanspruchnahme an kubistische Darstellungsprinzipien erinnernde Methode die verschachtelte Aufspaltung von Zeit und Raum dar. Zeit, da sich der Prozess der fotografischen Arbeit über die gesamte Dauer der Bauarbeiten zog; Raum, da sich die neue Zusammensetzung der Bildfragmente durch die immer gleichen Bildgrenzen der Bildkader zu neuen, geschlossenen Einheiten verdichten. Dabei vermischen und überlagern sich verschiedene Perspektiven, Größenverhältnisse und Materialien in dem farbigen Raster.

Matthes überführt jegliche fotografische Objekte in eine geometrische Form, selbst dann, wenn sich diese Objekte qua ihrer natürlichen Vorformulierung gar nicht dazu anbieten. Ein Gesamtzusammenhang der Einzelbilder wird nur durch die vom Künstler gewählte Neukombination erkennbar. Die verfälschende Raumwiedergabe funktioniert wie eine Rekombination des bisherigen Raumgefüges. Der Künstler zwingt die von ihm durch den Sucher der Kamera definierte Welt in das strenge Raster der Rechtecke und definiert damit umso stärker die technische Determination der Fotografie. Es scheint, als würde das Durcheinander der Materialschichten und Baufortschritte durch die Kamera erst beherrschbar.

 

 

In ihren rechteckigen Einzelbildern – sozusagen in ihrer „mikroskopischen“ Zusammensetzung – kreist es um einen in der Flächigkeit der Detailaufnahmen innewohnenden narrativen Kern: Schaut man genau hin, so entblättert sich vor dem Auge des Betrachters die Erzählung von Abriss und Herstellung, kontrollierter Demontage und Auferstehung des ganzen Hauses. Wenn man so will, kann man Steffen Matthes Arbeit im Neuhof 44 als visuellen, künstlerisch artikulierten Gedächtnisraum lesen, ein Gedächtnis das vielleicht mehr über den vollbrachten Umbau des Hauses erzählt als es sämtliche konventionell hergestellte fotografische Dokumentationen vollbringen könnten. Sein spezieller Blick, sein künstlerischer Stil entzieht sich aber der üblichen narrativen Ökonomie vom Anfang und Ende einer Geschichte. Stattdessen ist der Blick im Gitternetz der Anordnung auf viele Teile unterschiedlicher Räume und Zeitstadien verteilt. Die Binnengliederung, die sich hier wie ein feines Netz über das gesamte Bild legt, gibt dem sonst räumlich und zeitlich nach allen Seiten ausfransenden Bauprozess Ordnung und Struktur.

Worin liegt nun das Geheimnis dieser ungewöhnlichen Fotoarbeit?

Das analytische Potential der einzelnen Detailaufnahmen entspringt dem Geist quasi-naturwissenschaftlicher Neugier. Es muss eine Forschernatur sein, der mit der Welt mit einem Makroobjektiv sozusagen auf „Tuchfühlung“ geht. Die Makroaufnahmen, also die technische Möglichkeit die Wirklichkeit vergrößert und gestochen scharf darzustellen und die dingliche Welt zu erleben wie es dem bloßen Auge nur aus allernächster Nähe möglich wäre, laden die Arbeit mit einem enormen Reflexionspotential auf. Der Blick durch die Lupe entspricht dem Forschungsdrang des Künstlers: Gerade aus dem Wissensdrang wie etwas ist, entsteht schöpferische Kreativität. Und so ist es auch kein Zufall, dass die ersten Schritte die Matthes mit dem ungewöhnlichen Verfahren machte, mit einer Polaroid Makrokamera machte – eine Kamera, die u. a. zur Dokumentation von technischen Anlagen verwendet wurde. Ihr rund um das Objektiv gelagerter Ringblitz ermöglicht eine schattenfreie Ausleuchtung des Objektes. Die Sachlichkeit der fotografierten Objekte spiegelt sich in ihrer nichts verbergenden Darstellungsweise.

Dass Matthes seine ersten Schritte in dieser Technik ausgerechnet mit Gesichts- und Körperporträts machte, zeigt vielleicht, wie sehr der künstlerische Prozess der Bildbearbeitung mit der Neudefinition von Raumgefügen zusammenhängt. Das Ganzkörperporträt Rouven etwa, aus dem Jahre 2005 zeigt deutlich, dass die fotografische Verbeugung vor den Maleravantgarden des 20. Jahrhunderts auch und vor allem mit der künstlerischen Erforschung des menschlichen Körpers gelingen kann.

Tatsächlich wird hier mit dem Körper eines jungen Mannes ganz ähnlich verfahren wie mit dem Hausinneren von Neuhof 44. Zergliedert und auseinander genommen vergrößert sich nicht nur die bloße Anzahl der Perspektiven auf den Portätierten. Der menschliche Körper wird fragmentarisiert und gleichsam wie eine Körperlandkarte mit all ihren topographischen Gegebenheiten präsentiert.

 

 

Das Zusammenfügen zu einem geschlossenen Bild jedoch bedarf wiederum der Abstraktion, der Zergliederung von Zusammenhängen, auch wenn damit wieder neue Sinn- und Raumzusammenstellungen zutage treten: Verbindungen werden dort aufgebaut und aufgenommen, wo sie durch die Begrenzung ihres Bildausschnittes abbrechen. So entstehen neue fiktive Zusammenhänge, denen der Betrachter zunächst einmal auf den Leim geht. Matthes Bild läßt den ohnehin recht diffusen Begriff „abstrakt“ nur im weitesten Sinne und wenn überhaupt nur auf den ersten, flüchtigen Blick zu: Nicht nur, weil das Medium der Fotografie für detailgetreue Abbildgenauigkeit bürgt, sondern auch sein hier gewählter spezieller Einsatz offenbart den physischen Kern jedes Bildes: Lauter gestochen scharfe Makroaufnahmen digitaler Herkunft zeigen eine vielfältige Baustoffwelt, die selbst ein Materialunkundiger bald zu erkennen vermag.

 

 

Das fast aberwitzige Großprojekt, das Steffen Matthes mit Hilfe digitaler und analoger fotografischer Mittel konzipiert und umgesetzt hat, erscheint vor dem Hintergrund der historischen Kunstavantgarden des 20. Jahrhunderts, wie die Apotheose des Kubismus mit den Mitteln digitaler Fotografie. Der Blick auf die Arbeit in Neuhof 44 wird so zu einem Blick auf Vergangenheit und Gegenwart der Kunst. Ein Blick zurück in eine Vergangenheit der letzten Kunstavantgarden und Stilkollektiven ist zugleich ein intimer Blick auf das Innenleben eines privaten Lebensraumes. Und so lebendig wie sich das Leben nach und nach in der Wohnung und um das Bild herum gestalten wird, so wird auch der Blick auf das Bild selbst nie an Vitalität einbüßen. Mit diesem Bild zusammen zu leben heißt den Blick elastisch halten für die immer neuen Entdeckungen die man darin machen kann. Man wird nie fertig, nie „satt“ sein von all den Formen und Farben die die Collage bereit hält; für den Betrachterblick ist hier kein Ende vorgesehen.

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